Stilisierte digitale Illustration von Robin Dunbar mit Brille und bordeauxrotem Blazer vor hellgrünem Hintergrund.
Management
29. SEPT 2025

Robin Dunbar: Zahlen und Dynamik von Gruppen

Der Evolutionspsychologe Robin Dunbar hat mit seinen Studien über Tiergesellschaften unser Verständnis dafür revolutioniert, wie viele Beziehungen Menschen ernsthaft pflegen können. Die Antwort liegt in der Dunbar-Zahl: 150.

Text
Neelima Mahajan
illustrationen
Nigel Buchanan

Wie haben Sie die Dunbar-Zahl entdeckt?

Ich wollte verstehen, warum Primaten so viel Zeit damit verbringen, sich gegenseitig zu pflegen. Lange wurde das als Maßnahme zur Hygiene gedeutet. Ich sah darin ein Mittel zur Pflege sozialer Bindungen. Die Theorie der machiavellistischen Intelligenz erklärt, warum Primaten so große Gehirne haben: Sie leben in komplexen Gesellschaften und benötigen ein leistungsfähiges Gehirn, um ihre sozialen Beziehungen zu steuern. Zu meiner Überraschung zeigte sich ein Zusammenhang zwischen Gruppengröße und Gehirngröße bei Primaten. Das war der Ausgangspunkt für die Frage, was das für den Menschen bedeuten könnte. Ich begann damit, Jäger-und-Sammler-Gesellschaften zu erforschen, in denen der Mensch den größten Teil seiner evolutionären Geschichte verbracht hat. Ihre typische Gruppengröße lag bei etwa 150 Menschen. Seitdem analysieren wir Daten aus einer Vielzahl von Studien, um natürliche Gruppengrößen zu identifizieren. Dabei verfolgen wir zwei unterschiedliche Analyseansätze, die immer wieder zur selben Zahl führen: 150.

I wondered what that predicted for humans, then looked for evidence in hunter-gatherer societies where humans have spent most of our evolutionary history as a species. The natural Stone Age social organizations turned out to be 150. Since then, we’ve been collating data from many different studies, looking for the natural group sizes. In some cases, it’s looking at the world bottom up: your natural social network size, people you know and respect and give obligation to. But also looking top-down: how people are distributed in the environment, i.e. organization size. These two always meet in the middle as 150.

Mann der Zahlen

Robin Dunbar ist Evolutionspsychologe und Anthropologe. Er hat das Verhalten von Primaten erforscht. Der emeritierte Professor der University of Oxford veröffentlichte zuletzt die Bücher Friends: Understanding the Power of our Most Important Relationships und The Social Brain. Dieses Interview entstand beim Global Peter Drucker Forum.

Welche Parallelen haben Sie zwischen Menschen und Affen entdeckt?

Die zentralen Mechanismen sozialer Bindung sind im Laufe der Evolution gleich geblieben. Es geht zum Beispiel darum, wie Gruppen zusammengehalten werden. Dieses Problem betrifft alle intelligenten Tiere. Locker organisierte Gruppen wie Herden neigen dazu, sich beim Fressen zu zerstreuen. Der Nutzen des Gruppenlebens geht verloren. Wenn das Überleben davon abhängt, dass die Gruppe zusammenbleibt, braucht es Strategien, um das zu verhindern. Primaten haben dafür Mittel entwickelt, etwa enge Bindungen und Freundschaften. Doch je enger eine Gruppe verbunden ist, desto höher wird auch das Konfliktpotenzial. Dann kommt es zum Beispiel zu Meinungsverschiedenheiten darüber, in welche Richtung sich die Gruppe am Morgen auf Nahrungssuche begeben soll.

From monkeys to humans, what are some of the similarities you observed in social ­behavior and constructs?

The things that don’t change are the mechanisms we use for social bonding. How to keep groups together, for example. That’s a problem all smart animals have. If you just have loose and informal arrangements, like a herd, it very easily scatters while feeding and the benefit of being in a group is lost.

If it’s important for your survival and success in life as an animal to have the group stay together, you need mechanisms to counteract these forces. Primates in particular have evolved a number of mechanisms for creating bonded relationships, such as friendships. But by keeping the group together, you increase the stresses: Group members will disagree about different directions to go in the morning when they come down from the trees to go feeding.

Welche Strategien bringen Gruppenzusammenhalt und Konflikte in Einklang?

Zwei diplomatische Fähigkeiten sind entscheidend. Erstens muss man das Verhalten anderer richtig interpretieren können. Wenn Sie jemand anrempelt, erkennen Sie meist, ob es Absicht war oder nicht. Wer auf ein Missgeschick überzogen reagiert, riskiert den Bruch einer Beziehung. Solche Fehlreaktionen können das soziale Gefüge einer Gruppe erheblich belasten.

Die zweite diplomatische Fähigkeit betrifft die Selbstbeherrschung. Wer auf unmittelbare Vorteile verzichtet, verdient sich das Vertrauen der Gruppe. Beide Fähigkeiten sind typisch für Primaten. Je größer eine Gruppe wird, desto komplexer werden auch die Beziehungen und umso mehr Spannungen entstehen. Auch wenn unser engerer sozialer Kreis meist nur 150 Personen umfasst, so sind diese doch in weit größere Strukturen eingebunden: in Dörfer, Städte oder Organisationen. Die Fähigkeit, sich in komplexen sozialen Systemen sicher zu bewegen, ist ein Schlüssel zur menschlichen Intelligenz – und zum Wesen moderner Unternehmen.

Hat Sie die Nutzung der Dunbar-Zahl in so vielen unterschiedlichen Bereichen überrascht?

Ja, an einigen Stellen schon. Aber nach kurzem Nachdenken war ich gar nicht mehr so erstaunt. Denn bei allem, was wir im Leben machen, geht es letztlich um menschliche Beziehungen: Wir leben in einem Dorf, um zusammenzuarbeiten und voneinander zu profitieren. Moderne Armeen und viele Organisationen haben Strukturen, die auf der Dunbar-Zahl basieren, sogar Campingplätze. Ein weiteres Beispiel: Zwei Algorithmen zur Identifikation von Bots im Netz wurden unabhängig voneinander entwickelt. Beide Entwicklerteams nutzten meine Daten als Grundlage, um menschliche Nutzer von Bots zu unterscheiden. Die Idee: Weil Bots keine Menschen sind, sehen ihre Netzwerke völlig anders aus als diejenigen der Menschen.

Two bot detection algorithms have also been developed – quite separately – and they use my numbers as the basis of identifying human agents on the internet because their connections would look like a Dunbar network. Because bots are not humans, they would have networks that look completely different.

“Die Fähigkeit, sich in komplexen sozialen Systemen sicher zu bewegen, ist ein Schlüssel zur menschlichen Intelligenz – und zum Wesen moderner Unternehmen.”
Robin Dunbar
Evolutionspsychologe
Graue Illustration eines Gehirns.

Die Illusion der sozialen Medien

Soziale Medien suggerieren, es sei heute einfacher, Beziehungen zu pflegen. Doch nur weil man Bekannte im Blick behält, entstehen daraus keine Bindungen. Selbst wenn 1.000 Menschen sehen, was Sie zu Mittag gegessen haben: Ihr funktionierendes Netzwerk umfasst nur 150.

Inwieweit ist die Dunbar-Zahl ein Erfolgsfaktor für Unternehmen?

Meist ist sie das nicht, doch in manchen Zusammenhängen spielt sie eine wichtige Rolle. Wilbert Gore, der Gründer von W. L. Gore & Associates, war einer der Ersten, der sie konsequent in der Unternehmenspraxis nutzte. Gore arbeitete ursprünglich beim Chemiekonzern DuPont und war überzeugt, dass große Organisationen mit der Zeit ineffizient werden, weil Silos entstehen und Informationen nicht mehr frei fließen. Er entwickelte eine einfache Formel, wonach der Aufwand für Kommunikation exponentiell mit der Zahl der Beteiligten wächst. Die daraus abgeleitete Empfehlung: Einheiten mit rund 150 Personen funktionieren besser. Diese Zahl stimmt auffallend gut mit der Dunbar-Zahl überein. Gore zog daraus eine klare Konsequenz: Kein Standort des Unternehmens sollte mehr als 150, höchstens 200 Mitarbeiter beschäftigen. Wuchs das Unternehmen, wurden nicht bestehende Fabriken erweitert, sondern eine neue gebaut, manchmal direkt nebenan. So blieb es dabei, dass jeder jeden kannte. Eine formale Hierarchie war kaum nötig. Zwar gab es Manager, Buchhalter, Verkäufer und Fabrikarbeiter – doch alle wurden gleich behandelt. Die Rollen waren klar verteilt, das soziale Gefüge blieb überschaubar und verbindlich. Das förderte die Identifikation mit dem Unternehmen und das Verantwortungsgefühl.

Vergrößert man eine Einheit jedoch auf mehrere Tausend Menschen, geht der soziale Zusammenhalt verloren. Die fraktale Struktur bei Gore verhindert das: Jede Fabrik funktioniert als weitgehend eigenständige Einheit. Der Vorstand legt die strategische Richtung fest, die operative Umsetzung bestimmen die Teams vor Ort. Gore gilt bis heute als eines der erfolgreichsten mittelständischen Unternehmen – nicht zuletzt wegen seiner sogenannten Gitterstruktur, einem netzwerkartigen Organisationsmodell, das auf flachen Hierarchien und persönlichen Beziehungen aufbaut.

When you scale up your unit size to thousands of people, everyone becomes anonymous. In the fractal structure, however, which allows factories to operate as independent units, they make their own decisions. They’re given a strategy by the board but how they implement it is entirely at their discretion. Gore-Tex is often held up as one of the most successful medium-sized companies because of its flat lattice management structure rather than the pyramidal hierarchical structure. It’s based on personal relationships.

Kann man große Organisationen so strukturieren, dass das Gemeinschaftsgefühl nicht verloren geht?

Es gibt keine einfachen Lösungen. Die Größe unserer Gemeinschaften wuchs von Dörfern zu Städten und Stadtstaaten und schließlich zu Nationalstaaten. Schon bei den Jägern und Sammlern lebten nur etwa 50 Menschen in einem Lager. Eine Gemeinschaft von 150 Personen war auf drei Lager verteilt. Wenn einer die Nase voll hatte von seinen Mitbewohnern, konnte er in ein anderes Lager wechseln. Bringt man alle in einem einzigen Dorf zusammen, entstehen Spannungen. Dann kommen Verpflichtungen ins Spiel: Ehevereinbarungen, charismatische Anführer, respektierte Personen oder auch Männerclubs. 

Illustration einer Gorillahand, die einen blauen Spielzeugaffen aus einer Gruppe bunter, miteinander verbundener Plastikaffen auf einem Waldboden auswählt.
“Alles in unserem Leben dreht sich um menschliche Beziehungen. Wir leben in Dörfern, um zu kooperieren.”
Robin Dunbar
Evolutionspsychologe
Die Psychologie erfolgreicher Gruppendynamik
Der Dorfgedanke
Eine Organisation funktioniert wie ein gut organisiertes Dorf: Jeder spielt eine Rolle, von der alle anderen auf die eine oder andere Weise abhängen.
Grenzen setzen
Eine effektive Gruppengröße orientiert sich an bestimmten Richtwerten. Gemeinschaften von 5, 15, 50 oder 150 Menschen arbeiten effizienter als andere. 
Zeit investieren
Man sollte die Menschen in seiner Gruppe kennenlernen. Beziehungen sind wichtig, kosten aber einige Zeit, um sie zu knüpfen und zu pflegen.

Was ist das organisatorische Äquivalent zu diesen Mechanismen?

Es gibt noch viele andere Dinge, die in einem großen Maßstab in Gang gesetzt werden. Wenn man die Größe eines Dorfes von etwa 400 Menschen erreicht, kommen doktrinäre Religionen auf. In Jäger-und-Sammler-Gesellschaften sind die Religionen in der Regel schamanischer Natur: Schamanen versetzen sich in Trance und alle nehmen daran teil. Trancezustände entstehen offenbar, weil das Endorphinsystem durch diese Tätigkeiten aktiviert wird. Es gibt zwei Möglichkeiten, Menschen in Trancezustände zu versetzen: so, wie es die Jäger und Sammler tun, oder den subtileren Weg, der aus dem Buddhismus und dem Yoga stammt, wo es durch Atemkontrolle geschieht. Das Gefühl der Zugehörigkeit und Bindung schafft dann dieses Engagement für die Gemeinschaft oder für Mitglieder der Gruppe. Alles, was wir in unserem Alltag tun, um Beziehungen aufzubauen, setzt Endorphine frei und schafft ein Gefühl von Gemeinschaft, das es uns ermöglicht, die Grenzen persönlicher Beziehungen zu erweitern: gemeinsames Lachen, Singen, Tanzen, Rituale der Religion, gemeinsames Essen, Erzählen von emotionalen Geschichten.

Everything we do in the village in our everyday lives, in building relationships with each other, is endorphin-kicking and creates this sense of community that allows us to transcend the limits of personal relationships: laughing together, singing, dancing, rituals of religion, eating together, telling emotional substories.

Welche Auswirkungen hat die zunehmende Mobilität der Gegenwart auf die sozialen Gruppengrößen?

Das scheint keine Auswirkungen zu haben. Denn die Größe und emotionale Tiefe unserer sozialen Kreise hängen davon ab, wie oft wir mit Menschen in Kontakt treten und wie viele Beziehungen wir auf verschiedenen Ebenen der Nähe aufrechterhalten. Freundschaften benötigen regelmäßigen Kontakt, um auf Dauer bestehen zu können. Ohne regelmäßige Treffen und Investitionen in Beziehungen nehmen Freundschaften natürlicherweise ab. Familienbeziehungen verblassen mit der Zeit ebenfalls, aber langsamer als Freundschaften. Im Laufe unseres Lebens bleiben uns kleine Gruppen von wichtigen Menschen aus verschiedenen Lebensphasen erhalten. Diese Untergruppen spiegeln unsere Lebensgeschichten wider und setzen sich aus den wichtigsten Menschen zusammen, die wir kennengelernt haben. Insgesamt bleibt die Anzahl der engen Beziehungen bei etwa 150, insgesamt aber wird die Gruppe heterogener.

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